Freitag, 2. März 2007
Alltagserfahrungen
Die taz berichtet:

"Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Gideon Joffe, ... empfahl, "Nichtjuden sollten sich einfach mal eine Kippa [runde Kopfbedeckung] auf den Kopf setzen oder einen Davidstern an die Kette hängen". Es werde nicht lange dauern, "und sie werden Erfahrungen gemacht haben mit Antisemitismus"."

Ähnliche Ergebnisse sind zu erreichen mit
  • Kopftuch aufsetzen
  • mit einer Person des gleichen Geschlechts Händchenhaltend gehen
  • im Rollstuhl fahren
  • ...
Und doch wird frau dann immer nur die Spitze des Eisbergs erahnen können. Es ist nur ein Experiment, es prägt nicht die Alltagserfahrung. Anders als bei jenen, die ständig als vom Ideal des 'Standard-Deutschen' abweichend angesehen werden (aufgrund von Kleidung, Aussehen, Verhalten, ...). Für sie sind Antisemitismus, Rassismus, Homophobie, etc. Alltagserfahrungen, auch wenn sie vom Mainstream-Diskurs geleugnet werden.

Nachtrag 02.03.07: taz berlin-Reporter Richard Rother hat den "Kippa-Test" gemacht. Allerdings nicht als Alltagstest, auf seinen normalen Wegen, an den Orten, die er kennt und wo ihm Änderungen im Verhalten der anderen aufgefallen wären.

Anstatt dessen: "Wir entscheiden, den Test zu machen - in Neukölln und Lichtenberg. In Neukölln vermuten wir arabisch-moslemischen Antisemitismus, in Lichtenberg deutsch-rechtsextremen."

Offensichtlich waren sie auf der Suche nach dem außerordentlichen, am Rande der Gesellschaft, außerhalb der Norm. Sie erwarteten Spektakuläres und gaben Rother einen Begleitschutz mit. Doch er wartete vergeblich auf das Spektakuläre.

Spannender wäre es gewesen, wenn Rother eine Woche die Kippa auf seinen ganz normalen Wegen aufgehabt hätte, so lange, dass er vergisst an sie zu denken und dann durch die Reaktionen der anderen an sie erinnert würde. In einem Umfeld, das er gut kennt und wo ihm die Unterschiede, die subtilen, kleinen, aber auf Dauer ausgrenzenden, schmerzenden auffallen würden. Ohne Begleitschutz und ohne immer auf die Reaktion der anderen zu warten.

Nachtrag 21.01.09: Jetzt hat die taz-Redakteur_in Kirsten Reinhardt einen ähnliches Experiment mit Bart gemacht. In ihrem Bericht bleibt sie ständig in der Position der Norm und versucht aus der heraus nachzuempfinden, was denn "Aussätzige" so erleben. Da greift sie nicht nur in ihrer Wortwahl immer wieder ziemlich daneben, sie kann auch die Situation von Frauen mit Bart nicht wirklich nachvollziehen. Siehe dazu auch einen kritischen Leser_innenbrief.

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