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Samstag, 3. Dezember 2022
Un-informiert
urmila, 16:33h
Als ich gestern zum Bioladen ging, begegnete mir eine Gruppe Menschen mit Fahnen und Mützen. Ich kramte meine rudimentären Hindi-Kenntnisse aus und las, dass es Anhänger_innen der Aam Aadmi Party waren. Und dann erinnerte ich mich, dass Wahlen in Delhi anstehen. Schon letzte Woche war hier die BJP unterwegs. Und dann fiel mir auf, dass ich nicht wirklich weiss, wann die Wahlen sind (Sie sind morgen!). Obwohl ich täglich verschiedene indische Medien durchscrolle (Indian Express, Scroll, Wire), bekomme ich zentrale Dinge des Lebens in Delhi nicht mit. Ganz offensichtlich bin ich noch nicht so richtig hier angekommen. Über die Wahlen in Berlin bin ich sehr viel besser informiert.
Die AAP-Anhänger_innen bogen dann ab. Während die BJP wartete bis der Weg für sie frei war. (So zumindest meine Interpretation dessen, was ich sah.)
Nachtrag: Der Indian Express berichtet, dass wegen der Wahl seit Freitagabend kein Alkohol in Delhi verkauft werden darf.
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Sonntag, 27. November 2022
OCI-Tickets
urmila, 17:03h
Seit knapp 20 Jahren bin ich PIO (Person of Indian Origin), seit gut 10 Jahren OCI (Overseas Citizen of India). Am Anfang hat mir die PIO in Indien wenig gebracht. Selbst bei der Einreise schien das Dokument unbekannt. Und wenn ich ein Sehenswürdigkeit als Inderin betreten wollte (wozu mich PIO/OCI berechtigten), wurde mir das meist aufgrund meines Aussehens verweigert.
Daher bin ich jetzt ganz überrascht, wie problemlos meine OCI anerkannt wird. Im Taj Mahal hat unser Guide meine OCI-Karte zum Kauf mitgenommen. Am Eingang wurde noch nicht mal mit den Augebrauen gezuckt, als ich in der Inder_innenschlange stand. Im Red Fort und den Sunder Nurseries habe ich ohne meine OCI-Karte vorzulegen, anstandslos den Inder_innenpreis bekommen und wurde auch problemlos eingelassen. Darauf war ich gar nicht vorbereitet. Ich hatte erwartetet, dass ich mein Recht erstreiten musss. Und hatte überlegt, ob ich mich indisch kleiden sollte, um weniger in Frage gestellt zu werden.
Dabei geht es mir weniger darum, dass ich damit erheblich Geld spare (im Taj 50 Rs. statt 1100 Rs., ansonsten 50 Rs. statt 200 Rs.). Ich könnte auch den vollen Preis zahlen (wie etliche reichere Inder_innen auch). Aber wenn der indische Staat mich schon mit dem Dokument an das Land binden will, dann will ich auch die Rechte in Anspruch nehmen, die damit verbunden sind.
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Freitag, 25. November 2022
Fragmentierte Dekolonisierung
urmila, 13:37h
Diese Woche fand ein Workshop zur Dekolonisierung von Wissen mit einer tunesischen Delegation statt. Die Arbeitssprachen waren die beiden Kolonialsprachen Englisch und Französisch. Etliche der Teilnehmenden beherrschten (so wie ich) nur eine der beiden Sprachen, daher gab es eine Simultan-Dolmetschung. Oder sollte es geben. Sie sollten über Zoom stattfinden, was grundsätzlich eine schlaue Idee ist. Allerdings nur, wenn verschiedene Vorraussetzungen erfüllt sind. Zum einen, müssen alle Teilnehmenden einen stabilen Internetzugang haben. Zum anderen, müssen alle so technisch versiert sein, dass sie sich einloggen können, sich stumm stellen bzw. laut stellen können, etc. Beides war nicht so ganz gegeben.
Und so habe ich die französischen Vorträge nur fragmentiert gehört. Mal bin ich aus dem Netz geflogen. Mal konnten die Dolmetscher_innen nichts hören, weil kein Mikro an war oder zu viele. Sinn machten die Fragmente für mich nur ganz eingeschränkt. Es fehlte der rote Faden. Gut folgen konnte ich nur den englischen Vorträge und mich daher auch nur auf diese beziehen.
Damit war der Workshop auch ein Lehrstück zu den Herausforderungen der Dekolonisierung. Wie gehen wir um mit Vielsprachigkeit? Wer kann Sprachen wie können? Wer kann Übersetzung bekommen? Wer hat ausreichende Infrastruktur fürs Übersetzen? Was machen wir mit fragmentierter Wissensvermittlung?
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Mittwoch, 23. November 2022
Von Weiß bis Grau
urmila, 19:01h
Zur Zeit ist eine Delegation aus Tunesien bei uns in Delhi. Wir führen einen Workshop zusammen durch und machen auch gemeinsam Ausflüge. Gestern waren wir am Taj Mahal. Dem Sinnbild der Schönheit.
Dafür sassen wir über sieben Stunden im Bus. Und stellten fest, dass im Außenbereich von Delhi die Luft noch schlechter ist als im Zentrum. Sie stinkt. Und die Sicht blieb bis Agra eingeschränkt.
Ich trug als fast Einzige durchgängig Maske. (Am Montag beim Workshop bekam ich dafür auch einen blöden Kommentar.) Und am Abend hatte ich dann eine sehr dreckige Maske (die untere).
Heute trugen mehr Leute Maske. Spätestens nachdem ich ihnen das Foto gezeigt habe.
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Sonntag, 20. November 2022
Women, Incarcerated
urmila, 18:23h
Am Freitag war ich bei der Vorstellung des von Mahuya Bandyopadhyay und Rimple Mehta herausgegebenenen Sammelbandes Women, Incarcerated: Narratives from India über Gefängnis und Gender. Der Raum war voll, jeder Stehplatz war belegt, die Sitzplätze sowieso.
Moderiert wurde die Buchvorstellung von der feministischen Historikerin Uma Chakravarti. Die Herausgeberinnen hielen sich kurz und liessen den Panelistinnen den Raum. Die frührere Richterin am Patna High Court Anjana Prakash rauschte rein, sprach und rauschte raus. Die feministische Wissenschaftlerin V. Geetha bot eine komplexe Analyse.
Besonders beeindruckt haben mich die drei feministischen Aktivistinnnen Sudha Bharadwaj, Devangana Kalita und Natasha Narwal, die alle in den letzten Jahren wegen ihres Aktivismus inhaftiert waren und sich mit dem was sie im Gefängnis erlebt haben, vor allem was sie von ihren Mitgefangenen gelernt haben, kritisch auseinandersetzten. Dabei nutzen sie ihre privilegierte Position, um das System zu kritisieren.
Insbesondere Kalita und Narwal betonten, dass die inhaftierten Frauen (überwiegend aus niedrigen Kasten und Klassen) häufig jene sind, die ausserhalb des Gefängnisses patriarchale Grenzen überschritten hätten (ihre Familien verlassen, sich mit Kleinkriminalität finanzieren, etc.) und dafür inhaftiert wurden. Sie plädierten dafür das Gefängnis als politischen Raum auch jenseits der explizit politischen Gefangenen zu sehen. (Bei Scroll.in findet sich auch gerade ein Text von Kalita und Narwal.)
Die letzte Rednerin, die Rechtsanwältin Vrinda Grover stimmte nicht mit allem überein, was die jungen Aktivistinnen sagten. Zur Diskussion blieb ich aber nicht mehr, da der Abend da schon recht weit fortgeschritten war.
Es war aber sehr spannend mit tollen, engagierten und überlegten Rednerinnen.
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Freitag, 18. November 2022
Emergency
urmila, 12:53h
Ich lese gerade Mukundans Roman "Delhi. A Soliloquy" (Rezension auf scroll.on) über Malayalis in Delhi. Es fängt an mit dem indisch-chinesischen Krieg 1962 und gerade bin ich im Jahr 1975 mit der Emergency angekommen. Eindringlich wird die herrschende Angst beschrieben, die Zensur, das Verschwinden von Intellektuellen und die Zwangssterilisationen.
Grundsätzlich wusste ich davon, dass Indira Gandhi den Notstand hatte ausrufen lassen und dass ihr Sohn Sanjay sich vor allem mit den Zwangssterilisationen hervorgetan hat. Ich habe das aber irgendwie nur mit 1977 verbunden. Da ging die Emergency zu Ende und es gab einen Regierungswechsel.
Erst jetzt ist mir bewusst geworden, dass der fünfmonatige Indienaufenthalt meiner Mutter, meines Bruders und mir vor meiner Einschulung mitten in der Emergency 1975/76 stattgefunden hat. Das war nie Teil der Erzählungen über diesen Aufenthalt, anders als die Hitze im April, mein Geburtstagswunsch (eine Kiste Cola) oder der Angriff durch Affen. Und meine Mutter kann sich heute auch nicht mehr so recht erinnern, dass das damals relevant für uns war. Dabei ist sie alleine mit uns Kindern durch das Land gereist.
Spannend, was erzählt und erinnert wird.
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Donnerstag, 17. November 2022
Straßengespräch
urmila, 11:15h
Auf dem Weg zum Büro überquere ich immer diese Strasse. Das ist kein Problem, da die Ampeln dafür sorgen, dass es Lücken gibt und es auch eine Mittelinsel gibt, auch wenn sie gerade durch ein Absperrgitter belagert ist.
Gestern habe ich mir die Mittelinsel mit drei jungen Menschen geteilt, die dann vor mir losgegangen sind und schon auf der anderen Seite waren, als ich noch da stand. Sie schauten, ob sie mir helfen sollen. Was nicht nötig war. Kurz darauf hatte ich sie eingeholt, weil meine Beine länger oder meine Schritte größer sind.
Sie fingen ein Gespräch mit mir an, woher ich sei, ob ich reise. Ich meinte, dass ich hier arbeite und forsche. Darauf der Kommentar, das wäre ja interessant, sonst würden Inder_innen (im Englischen ungegendert: Indians) ja in Deutschland forschen. Sie erzählten mir, sie kämen aus dem Süden und spezifizierten auf Rückfrage aus Kerala, worauf ich ihnen dann natürlich erzählte das ich über Malayali Krankenschwestern in Deutschland arbeite. Die drei wiederum bereiteten sich auf die Regerierungsprüfungen vor, um im öffentlichen Dienst (IAS) angestellt zu werden.
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