Mittwoch, 22. Juli 2020
"Das Rad kostet 3000 €!
Fussweg neben Pflasterstrasse


Ganz in unserer Nähe kommt es immer wieder zu Konflikten zwischen Radfahrenden und Zufußgehenden. Die Straße ist übles Kopfsteinpflaster. Der Fußweg ist eng. Sehr viele Radfahrende meinen trotzdem nicht nur einfach über den Fußweg fahren zu dürfen, sondern auch dass die Fußgänger_innen ihnen Platz machen müssen. Als Fußgängerin finde ich das eine Zumutung. Wenn ich da lang gehe (was häufig geschieht), versuche ich über das holprige Pflaster auf der anderen Straßenseite zu laufen oder zwischen den Radasbstellanlagen, nur um nicht umgefahren zu werden. Und wenn ich doch auf dem Fußweg bin, dann gehe ich in der Regel nicht einfach aus dem Weg. Und bekomme dafür dann schon mal Ärger.

Heute war ich nicht auf dem Fußweg, sondern mit dem Rad auf der Straße. Da fahre ich in der Regel, auch wenn das mit aufgepumpten Reifen eine ganz schöne Zumutung ist. Rüttel-Massage.

Ich konnte beobachten, wie mal wieder ein Radfahrer mit zu hoher Geschwindigkeit auf den Fußweg fuhr und viel zu nah an zwei Fußgängern vorbei wollte (hier jeweils kein generisches Maskulinum, das wird noch wichtig). Die fanden das nicht witzig und haben dem Radfahrer den Weg versperrt. Ich bin derweil weitergefahren und erst zurückgekommen, als die sich angeschrieen haben.

Der Radfahrer brüllte immer wieder, dass sein Rad 3000 € gekostet hat und was den Fußgängern einfalle, gegen das Rad zu treten. (Das habe ich nicht beobachtet, kann aber gut sein.) Der Typ schrie die ganze Zeit auf die ein, ziemlich aggressiv, kam ihnen auch nah (kein Corona-Abstand). Wiederholte immer wieder wie teuer sein Rad sei. Und dass sie sich das nicht leisten könnten. Und dass er auf der Straße nicht fahren könne wegen des Pflasters. Und dass er nicht für ein paar Meter absteigen könne. Und was sie sich erlauben, gegen sein Rad zu treten. Und immer so weiter. Er hat immer wieder versucht, sie zu beleidigen (nicht genug Geld, alkoholisiert, etc.). Die beiden Fußgänger hielten ein bisschen dagegen, waren dabei aber überraschend ruhig. Am Anfang hatte ich nocht gedacht, gleich prügeln sie sich.

Und während das weiter lief, da fuhren immer wieder Radfahrende dazwischen durch, als ob es ein Radweg wäre und sie sich um nichts kümmern müssten. Die versuchte der Radfahrer, dann immer auf seine Seite zu ziehen. Brüllte dabei aber ein bisschen zu aggressiv.

In seiner Wut steigerte sich der Radfahrer immer mehr, bis er den Fußgänger dann vorwarf, sie hätten gegen sein Rad getreten, weil sie so deutsch seien und er nicht. Und sie, die Deutschen, sich nicht so ein teures Rad nicht leisten könnten und meinten, dass er sich das nicht leisten dürfte. Und dass sie wegen ihrer politischen Einstellung gegen das Rad getreten haben. Und ja, natürlich kann es sein, dass die beiden auch rassistisch sind. Und ja, wahrscheinlich macht der Radfahrer regelmäßig Rassismuerfahrungen. Aber in der Situation habe ich keine Anzeichen für Rassismus wahrgenommen. Wenn ich diejenige gewesen wäre, die er auf dem Fußweg fast umgefahren hätte, dann hätte ich ihm auch den Weg versperrt und geschimpft. Dann wäre mir wahrscheinlich aufgefallen, dass er schwarz ist und ich hätte überlegt, ob ich deswegen weniger schimpfen sollte.

Vorallem aber habe ich einen recht privilegierten Mann gesehen, der seine Männlichkeit aggressiv auslebt. Einen Typ, dem sein teures Rad wichtiger ist als alles andere, dem die anderen aus dem Weg zu springen haben, weil er so toll ist. Davon gibt es in der Gegend viele (wozu ich schon geschrieben habe).

Schliesslich kam dann die gerufene Polizei, weil der Radfahrer der Meinung war, dass sein Rad beschädigt sei. Als er den Polizist_innen aber gezeigt hat, wie er (angeblich) gefahren ist, war nichts von einer Acht oder so zu sehen. Aber mittlerweile hatte er seine Argumentation vom beschädigten Rad gewandelt zum rassistischen Übergriff gegen ihn.

Als Rassismus- und Intersektionalitätsforscherin ein spannendes Zusammenkommen unterschiedlicher Machtverhältnisse, die ein komplexe und ambivalente Situation hervorrufen. In der direkten Konfrontation aber vorallem agressive Mittelklasse-Männlichkeit, die bedrohlich ist.

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Freitag, 29. Mai 2020
Rassismus in der DDR
"Schwarze Schwester Angela" - Die Solidaritätskampagne für Angela Davis in der DDR-Frauenzeitschrift Für Dich zwischen Identifikation mit antirassistischen Kämpfen und Leugnung von Rassismus in der DDR von Ilanga Mwaungulu

In der DDR war Rassismus weit verbreitet: Er durchzog alle gesellschaftlichen Bereiche, wirkte auf struktureller, ideologischer und individueller Ebene und äußerte sich in den unterschiedlichen Arbeits- und Lebensbedingungen von Migrant*innen und dominanzdeutschen, in Bildern vom 'Eigenen' und vom 'Anderen' sowie in verbaler und physischer Gewalt gegen Schwarze und PoC. Gleichzeitig sah sich die DDR als antirassistische Gesellschaft. Auf der einen Seite war das eine Behauptung, Medien, Politik und viele Bürger*innen leugneten den Rassismus in der DDR. Auf der anderen Seite gab es auch eine
tatsächliche antirassistische Praxis: staatliche Institutionen und ein großer Teil der Bevölkerung unterstützten antikoloniale und antirassistische Kämpfe in anderen Ländern. Besonders die Solidaritätskampagne mit der US-amerikanischen Kommunistin, Antirassistin und Feministin Angela Davis hatte ein enormes Identifikationspotential. Die Arbeit untersucht das Verhältnis von ‚Internationaler Solidarität‘ und Rassismus anhand der
Solidaritätskampagne für Angela Davis in der DDR-Frauenzeitschrift Für Dich. Darin wurde Rassismus in der DDR geleugnet und das antirassistische Selbstbild bestärkt. Es finden sich aber auch Anknüpfungspunkte für eine kritische Thematisierung von Rassismus in der
DDR.

Jetzt online.

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Sonntag, 17. Mai 2020
(Nicht) Studieren mit Kindern
"Meine familiere Situation (drei Kinder im Haushalt) lässt mich in dieser neuen Situation (Corona) nicht wie von mir gewünscht an Seminaren so teilnehmen, wie ich es von mir erwarte."

So meldete sich ein Studierender von einem meiner Seminare ab. Und er ist nicht der einzige. Unter denen, die Seminare abgebrochen haben, sind etliche, die sich um Kinder kümmern müssen. Meist müssen sie auch noch arbeiten. Da bleibt nicht viel Zeit zum Studium.

Und die, die es irgendwie hinbekommen, die können sich weniger beteiligen, sind weniger präsent in asynchronen und synchronen Besprechungen, haben größere Schwierigkeiten, Aufgaben zu erfüllen. Die Schere zwischen ihnen und anderen Studierenden geht zunehmend auf.

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Freitag, 8. Mai 2020
Kritierien der Lockerung
Die Büropflanze hat die Kontaktsperre nicht überlebt.


Gerade scheint ein Lockerungs-Wettbewerb angelaufen zu sein. Die Kritieren scheinen mir dabei nicht vom Infektionsrisiko abzuhängen. So berichtet der RBB, zum Beispiel, für Berlin:

"Sonnenstudios und Solarien dürfen ab dem Samstag, 9. Mai geöffnet werden, ebenso wie körpernahe Dienstleistungen wie Kosmetikstudios, Massagepraxen, Tattoo-Studios und ähnliche Betriebe."

und

"Lockerungen gibt es auch an den Hochschulen. Ab dem Montag, 11. Mai könne der Forschungsbetrieb auf dem Campus unter Auflagen wieder geöffnet werden, so die Senatskanzlei. Auch bestimmte Arbeiten in der Verwaltung könnten wieder zugelassen werden. Voraussetzung sei, dass Hygienevorkehrungen getroffen und Menschenansammlungen vermieden werden. Allerdings bleiben die Hochschulen für die Präsenzlehre und den Publikumsverkehr weiterhin geschlossen."

Da verstehe ich die Kriterien so gar nicht. Es ist nicht so, dass ich unbedingt wieder in mein Büro an der Uni will oder das Sekretariat unbedingt öffnen will. Sprechstunden kann ich auch digital machen. Und Präsenz-Lehrveranstaltungen will ich zur Zeit gar nicht halten. Aber warum ist es gefährlicher, wenn ich alleine in meinem Büro am Institut sitze und nur selten mal jemanden auf dem Flur treffe oder das Sekretariat im Büro arbeiten kann und vielleicht mal von einer Studierenden ein Formular übernimmt als jemanden zu massieren, ein Tatoo zu stechen oder die Nägel zu machen? Mit Risiko kann das nichts zu tun haben. Das müssen rein wirtschaftliche Überlegungen sein. Oder übersehe ich da was?

Und was passiert, wenn wir dann wieder alles schliessen müssen, weil die Lockerungen zu früh waren?

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Montag, 4. Mai 2020
Radfahren, Abstand und Schimpfworte
Sauer werde ich am ehesten beim Radfahren. Wenn mir die Vorfahrt genommen wird, wenn zu eng überholt wird, wenn ich sonstwie gefährdet werde. Um meine Angst, meine Wut, meinen Ärger dann zu artikulieren, brülle ich schon einmal ein Schimpfwort den Agressor_innen (meist ohne _inn) hinterher oder zeige den Stinkefinger. Was anderes bleibt mir meist nicht über, um mich zu äußern. Für eine gepflegte Diskussion über Verkehrsmanieren ist meist nicht die Zeit und Gelegenheit.

Meine Erfahrung dabei ist, dass die meisten es nicht besonders schlimm finden, dass sie gerade meine Gesundheit gefährdet haben. Dass sie beleidigt worden, finden sie hingegen ziemlich schlimm und verlangen von mir Genugtuung.

Heute war es besonders krass: In ungefähr 30 cm Entfernung rast ein Radfahrer rechts an mir vorbei. Ich brüll ihm ein Schimpfwort hinterher. Er bleibt in 10 Meter Entfernung stehen und verlangt eine Entschuldigung. Ich begründe mein Schimpfwort mit fehlenden Abstand und rechts überholen. Ich fahre weiter und denke schon, es ist glimpflich ausgegangen. Dann stellt er mich, als ich die Haustür aufschliessen will. Stellt sich auf die andere Seite meines Rads, so ca. 80 cm von mir auf und brüllt mich an. Ich brüll ihn an, dass er 2 Meter Abstand halten soll. Dann reist er mein Baguette aus dem Einkaufskorb, schmeisst es auf die Straße und fährt davon.

Ja, ich weiss, dass Schimpfworte/Stinkefinger den Straftatsbestand der Beliedigung erfüllen. Gerne würde ich meine Gefährdung nicht so sanktionieren. Aber ich mag auch nicht alles einfach so einstecken und ruhig bleiben. In Zeiten von Corona werden solche Übergriffe noch beängstigender.

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Montag, 27. April 2020
Digitale Lehre als Experimentierfeld
Das Semester läuft jetzt seit einer Woche und wie immer hat es mich reingezogen. Vor Semesterbeginn denke ich immer, dass ich gerne noch länger Pause hätte, und mit Semesterbeginn bekomme ich dann wieder Spass am Lehren. So ist das auch diesmal. Mir macht nicht nur Lehren Spaß, sondern auch das Ausprobieren von verschiedenen didaktischen Möglichkeiten. Das digitale Lehren erlaubt mir da einiges und ich bastle eifrig rum. Es gibt da schon nette Tools. Und das digitale und asynchrone Lernen kommt manchen Studierenden vielleicht auch entgegen und sie können sich besser beteiligen.

Insofern hat unsere Unileitung natürlich schon recht. Wir lernen dazu und viele scheinen es auch sehr gut zu machen (was ich von Studierenden höre).

Und trotzdem: Das Semester ist keine Bereicherung, sondern eine Krise. Die Studierende mit dem siebenjährigen Kind kann nicht an synchronen Sitzungen teilnehmen und entschuldigt sich dafür. Viele sind nicht zu Kursen zugelassen worden und haben jetzt Angst, ihr Bafög zu verlieren. Oder einfach keine Möglichkeit, sich durch Studium von der Krise abzulenken. Eine Studentin war heftig an Covid 19 erkrankt.

Dass ich jetzt hier fröhlich rumbastele ist ein Privileg. Ich habe kein Kind zu hause, bin nicht krank, habe eine feste Stelle, wenig Zukunftsangst, etc. etc.

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Dienstag, 21. April 2020
Motivationsversuche in der Krise
Die Unileitung (auf verschiedenen Ebenen) versucht uns nahezubringen, dass alles gut wird. Dafür bekommen wir immer wieder motivierende Mails, in denen dann zum Beispiel steht:

"Ich meine, dass Ihre intensiven Vorbereitungen Früchte tragen und das digitale Semester unter dem Strich eine positive Erfahrung sein wird."

Wenn das ein Versuch ist, meine Arbeit wertzuschätzen, dann ist sie fehlgeschlagen. Bei solchen Formulierungen wird mir nur übel. Die Vorgesetzten wissen ja gar nicht, was ich tue. Die schätzen das nicht, sondern wollen mich dazu bringen, dass ich die Mehrarbeit als Chance sehe und trotz fehlender Infrastruktur alles (und mehr) gebe. Und dann schreiben sie auch noch:

"Wer weiß: Vielleicht lässt sich manches, das in diesem Semester aufs Gleis gesetzt wurde, dauerhaft nutzen?"

Sollte das als Motivation gedacht sein, funktioniert das noch weniger. Denn da wittere ich Gefahr: Wenn Ihr jetzt unter schlechten Bedingungen viel schafft, dann braucht Ihr auch in Zukunft keine bessere Bedingungen.

Es geht aber auch anders. Aus einer anderen Fakultät lese ich:

"Wir hoffen, dass Sie auch unter den aktuellen Rahmenbedingungen gute Erfahrungen sammeln können und die Freude am Lernen und Lehren beibehalten."

Eigentlich eine ähnliche Aussage, aber doch ganz anders. Denn es wird klar gemacht, dass die Rahmenbedingungen gerade nicht gut sind und vielleicht trotzdem was gut sein kann. Und der Brief endet mit:

"Wir vergessen nicht, dass die aktuellen Einschränkungen und das Kontaktverbot für manche von Ihnen sich auch persönlich stark belastend auswirken kann. Wenn Sie Rat bei persönlichen Krisen benötigen, finden Sie unter folgenden Adressen Unterstützung:
  • Berliner Krisendienst: https://www.berliner-krisendienst.de/
  • Telefonseelsorge: 0800 - 111 0 111 oder 0800 - 111 0 222 (rund um die Uhr)
  • Corona-Seelsorgetelefon der Notfallseelsorge/Krisenintervention Berlin: 030 - 403 665 885 (8-18 Uhr)
  • FAQs des Studierendenwerks Berlin für Studierende in finanzieller Not: https://bit.ly/3cfQXoe"

Das richtet sich wohl vor allem an die Studierenden und weniger an die Lehrenden, aber es thematisiert zumindest, dass wir wirklich in einer Krise stecken und das massive Folgen haben kann.

Diese Adressierung finde ich sehr viel motivierender als die erste.

PS: Die alleinerziehende Kollegin mit Kita-Kind schrieb mir letzten Freitag, dass sie noch nie so glücklich war, wie über die Nachricht, dass ihr Kind ab übernächster Woche von 9-14 Uhr in die Notfallbetreuung kann.

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Practising Partnership
Ich freue mich, dass die hervorragende MA-Arbeit von Anja Schwalbe "Practising Partnership. Making connections within a transnational education network" jetzt als Band 5 der Reihe "Berliner Abschlussarbeiten der Europäischen Ethnologie" erschienen ist.

Zum Inhalt:

Does a transnational cooperation project help overcome historical power relations when cooperating across borders and continents? Departing from this self-reflexive question articulated by a European education network striving at the time to expand its membership and become ‘more global’, this ethnographic study explores how exactly global cooperation comes about. Drawing on insights from the Ethnography of Infrastructure and Actor-Network-Theory, I examine the otherwise not-so-visible work practices of educators and administrators driving such a project forward – in this case study, an ERASMUS+ funded NGO project. I show how facilitators and administrators in the project are dealing with different kinds of invisible work when interacting with the frames set by funder’s rules, on one side, and each organisations’ administrative needs, on the other. As a crucial part of their involvement, practitioners have to tackle the recurring problem of establishing connection and staying connected. Based on these observations I analyse how the project as a form itself assists in making ‘the global’ through its own transient ways of connecting and disconnecting things, people and places. The project relates to partnership in a double sense: it represents a cooperation in itself and it is at the same time used as a vehicle to achieve the said. I suggest to call this the characteristic form of partnership-as-project in which inscriptions made in the past through budgets and proposals facilitate and simultaneously shape all efforts to cooperate as equals. This case study shows where and how (funding) infrastructures very concretely participate in constructing global relations, as they are entangled in the very historical structures that projects concerned with transnational cooperation seek to challenge.

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