Mittwoch, 16. August 2006
Vorurteilsintegration
Anastasia Telaak berichtet in der taz unter dem Titel Sei pünktlich! Spuck nicht auf die Straße! über Lehrbücher für die 'Integrationskurse'. Zwei wesentliche Kritikpunkte macht sie aus:

1. In den Lehrbüchern werden rassistische Vorurteile über 'MigrantInnen' reproduziert und dienen als Grundlage für das Erlernen von 'richtigem' Verhalten:

In den Materialien für den Orientierungskurs "30 Stunden Deutschland" vom Klett Verlag etwa sollen die Migranten anhand von Zeichnungen vergleichen, welches Verhalten in ihrer Kultur und in Deutschland jeweils akzeptabel ist: sich unter Männern bei Begegnungen umarmen, unpünktlich sein, Kinder schlagen, auf die Straße spucken oder die eigene Ehefrau beim Einkaufen als Packesel missbrauchen? Nicht zu erkennen ist auf den Zeichnungen, ob es sich bei den dargestellten Personen um Migranten handeln soll oder um einheimische Mitteleuropäer - betrachtet man etwa den busenbetonten Pulli und die offenen Haare der Frau, die für ihren Mann die Einkaufstüten schleppt. Doch gerade diese pädagogische Tarnung wirkt befremdlicher als das unverhüllte Klischee. Was sollen die Migranten aus den scheinbar neutralen Darstellungen herauslesen? Dass mit den Bildern nicht sie, sondern Hinz und Kunz gemeint sind, dass es aber offenbar trotzdem nötig ist, gerade die Neubürger auf das rechte Benehmen hinzuweisen?

Wesentlich unverblümter kommt das in diesem Jahr neu erschienene Buch "Zur Orientierung. Deutschland in 30 Stunden" vom Hueber Verlag zur Sache. In einem Comic stellt es eine Figur namens "Jacek" vor. "Jacek" macht alles falsch: Er wirft die Bananenschale in den Papiermüll, missachtet das Abstellverbot für Fahrräder und erscheint (wegen der erkrankten Mutter) verspätet zu einem Termin beim Ausländeramt. Dann steckt er dem absolut unbestechlichen, im Übrigen jedoch wohlwollenden Beamten auch noch eine Pralinenschachtel zu.

Zwei Seiten weiter fragt das Quiz "Leben in Deutschland", ob es passend ist, im Restaurant behaglich-laut zu schmatzen, sich am Telefon mit "Hallo?" zu melden oder einen deutschen Freund ohne Vorankündigung zu besuchen. Wer hier mit "Nein" antwortet, ist zu beglückwünschen: Er weiß, was sich gehört - und kann stolz darauf sein, dass "sogar einige Deutsche von Ihnen lernen können, wie man sich in Deutschland verhalten soll".


(In der gedruckten taz wird der Artikel mit Illustrationen aus einem Lehrbuch sehr eindrücklich bebildert.)

2. Obwohl in letzter Zeit immer wieder gefordert wird, dass sich 'MigrantInnen' zur 'deutschen Schicksalsgemeinschaft' bekennen, kommen die Lehrbücher ohne eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus aus:

Erstaunliche Lücken finden sich dagegen in den Kapiteln zur deutschen Geschichte. Nur in zwei Lehrwerken werden Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg und Holocaust als eigenständige Themen präsentiert. In zwei weiteren Büchern gehören einige der relevantesten Fakten über das Dritte Reich immerhin zum "Basiswissen Geschichte". Kein Wort dagegen findet sich in dem neuesten Hueber-Buch "Zur Orientierung. Deutschland in 30 Stunden". Hier beginnt das Geschichtskapitel mit dem Jahr 1945. Es fehlt jeder Hinweis auf die Geschehnisse, die der Einführung der Demokratie in Deutschland vorausgingen. Als Opfer des Zweiten Weltkriegs werden außerdem ausschließlich Deutsche erwähnt: gefallene Soldaten, Kriegsgefangene und Trümmerfrauen.

... Dazu sagte Doris Dickel, Referentin der Integrationsbeauftragten Maria Böhmer (CDU), in einem 30-stündigen Kurs sei "eine thematische Eingrenzung des Pflichtprogramms" nun mal "unumgänglich".


So, also sieht 'Integration' in 'Deutschland' aus.

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